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Dieser Text wurde vorgetragen
am 30. Juli 2015 auf der Veranstaltung Gerätekommunismus. Der Dämon der Äquivalenz im kapitalistischen Cyberspace (mit Hugo Velarde) im Rahmen der Reihe für die mutter der ordnung – gegen den vater aller dinge (Januar-Dezember 2015) der Rumbalotte Prenzlauer Berg Connection e. V.

Plakat: Frank Diersch
Foto: Franziska Hauser




 

VON DER MIKROELEKTRONISCHEN KONTEREVOLUTION ZUM KOMMUNISMUS DER DINGE

Nachdem wir zumindest eine Ahnung haben könnten von dem, was uns nun blüht, bleibt die Frage – in diesem speziellen Raum: Was ist Gerätekommunismus? Denn hier, genauer gesagt im improvisierten Biergarten vor der Schankwirtschaft resp. Kulturspelunke, ist der Begriff entstanden (dazu einer der Wandsprüche auf dem hiesigen Männerklo: „Kulturspelunke verhält sich zu Spelunke wie Kommunismus zu Salonkommunismus“).

Im Frühling des Jahres 2013 saß ich mit Andreas Hansen und Hartmut Rübner in besagtem Biergarten.1 Hartmut hatte die erste Ausgabe der Zeitschrift Strike! – Streitschrift für revolutionären Unionismus und Rätekommunismus dabei, die über das Rote Antiquariat in der Rungestraße ausgeliefert wurde. Strike! sollte ab Oktober 2012 alle sechs Monate erscheinen. Die erste Druckausgabe war dann ab Januar 2013 erhältlich. Danach verlegte sich die Redaktion auf die Herausgabe eines Onlinemagazins unter strike.blogsport.de, das sporadisch Beiträge zum revolutionären Unionismus veröffentlichte. Zitat: „Im Moment gibt es 16 Beiträge und 3 Kommentare, verteilt auf 8 Kategorien.“ Im ersten Eintrag auf der Website vom 25. September 2012 findet sich eine Definition: „Der Rätekommunismus tritt seit seiner Herausbildung im Zuge der Novemberrevolution 1918/19 sowohl gegen die reformistische Sozialdemokratie als auch gegen die stalinistische Deformation der kommunistischen Idee einer Gesellschaft der Freien und Gleichen auf.“2 Zitatende.

Beim Sichten des Blattes, das von einem unangestrengten Gespräch begleitet war, kam es zu dem entscheidenden „Versprecher“ – der allerdings auch ein „Verhörer“ meinerseits gewesen sein kann. Auf jeden Fall war es eine Art akustisches Rauschen, das die Geburt des Begriffes ‚Gerätekommunismus‘ einleitete, ein Rauschen, das jedem von uns durch den Gebrauch einschlägiger Geräte der Funktelefonie bekannt sein dürfte. Besiegelt wurde das neue Wort von einem Vogelschiß, der in der vom Wind aufgeblätterten Strike! landete.

Bei den Vorbereitungen zu dieser Veranstaltung, im Zuge der Flyerverteilung, konnte es in der Hitze des Tages auch schon mal zu einem optischen Rauschen kommen. So, wie Jürgen Theobaldy in seinem Gedicht Früh dunkel die im Abenddunst grünlich flimmernde Leuchtschrift „Briefmarken“ aus der Entfernung als „Biergarten“ liest, kann der Titel des Plakats in der Nähe von geeigneten Lokalitäten durchaus als „Getränkekommunismus“ entziffert werden. Naheliegend wäre z. B. das BAIZ, worin eine Tresenkraft vor längerer Zeit auf die geäußerte Idee eines kostenlosen Getränkeausschanks wie folgt konterte: „Wenn es kein Geld mehr gibt, gehören wir zu den ersten, die keins mehr nehmen.“

Abzulehnen ist allein die Variante „Geredekommunismus“, die, abgesehen vom sächselnden Einschlag der Aussprache, mit den hier zu verhandelnden Dingen nichts gemein hat, es sei denn, man nimmt den Hinweis eines Netzwerkexperten zu Geräteverbindungen als technischen Kommentar ernst: „Ich bin es gewohnt, daß mein Gerät, wenn ich es irgendwo reinstecke, in seiner Funktion erkannt wird.

Im Übrigen sind wir es gewohnt, die Geräte zu benutzen – wenn sie nun schon mal da sind! Der Gerätekommunismus steht für die umgekehrte These: daß die Geräte uns benutzen. Wer anderes behauptet, soll in den Wald gehen und sich sein Handy selber schnitzen. Zu einer Zeit, in der die Möglichkeiten, sich ins „kybernetische Delirium“3 zu begeben, noch in den Kinderschuhen steckten, stellte Thomas Brasch die Frage: „Nach der Arbeit an den Maschinen/ träumen die Leute von den Maschinen/ Wovon träumen die Maschinen/ nach der Arbeit an den Leuten?“4 Das erwähnte Delirium speist sich aus der Tatsache, daß die Gesellschaft als „kybernetische Maschine“ funktioniert: Ihre Kooperationsform ist die Warenproduktion, ihr Zweck die sich selbst organisierende Wertverwertung; die individuelle Reproduktion ist nur möglich innerhalb dieser Form, d. h. jede und jeder ist gezwungen, sie zu reproduzieren; die Struktur der Verwertung erzeugt die soziale Struktur, nicht umgekehrt.5

Das omnipräsente „gewaltig sich blähende Nichts“6, die alles verschlingende Kapitalblase, worin der Cyberspace sich anschickt, die Gutenberg-Galaxis zu verschlingen, ist „ständig vom Soundtrack begleitet, mit dem sich der Irrtum des Jetzt ausbreitet“7.

„Outside my window the world has gone to war.“8 Die kriegerische Ursprung der Radio-, Funk-, Rechen- und Netztechnologie ist ja ein Allgemeinplatz, von dem aus ein Blick in die Zukunft lohnt:

Pilot Pirx ist auf Patrouillenflug in einem Sektor, der eine Million und eintausendsechzehn Kubikkilometer leeren Raum umfaßt. Zwei seiner Kollegen, Thomas und Wilmer, sind aus ungeklärten Gründen bei Patrouillen in diesem Sektor verschollen. Der Bildschirm, vor dem er saß, „hatte ungefähr einen Durchmesser von einem Meter und sah aus wie ein schwarzer Schacht – ziemlich genau in der Mitte leuchtete das Rho des Schlangenträgers, und in der Milchstraße klaffte ein doppelter dunkler Spalt, der bis an den Rand des Schirms reichte. Zu beiden Seiten schien alles wie mit Sternenpulver bestreut. In dieses reglose Bild glitt langsam ein winziger Lichtpunkt, der aber wesentlich besser zu erkennen war als jeder Stern. Nicht, daß er besonders hell gewesen wäre – Pirx bemerkte ihn deshalb sofort, weil er sich bewegte. Ohne noch einmal die Hilfe der Augen in Anspruch zu nehmen, packten seine Hände ganz von selbst die richtigen Hebel. Der Reaktor, der bisher im Leerlauf gearbeitet hatte, gab, jäh aufgeschreckt, blitzartig Schub.“9 Nun beginnt eine Verfolgungsjagd, an deren Ende Pirx bemerkt, daß der Lichtpunkt, dem er hinterherrast, durch einen technischen Defekt im Wiedergabegerät selbst erzeugt wird.

Erweitern die Monitore unseren Daseinshorizont? Oder sind sie das Irrlicht, dem Thomas und Wilmer hinterhergejagt sind in die Kälte des gewaltig sich blähenden Nichts? Wir haben es hier mit einer Vortäuschung richtiger Tatsachen zu tun, mit Realität als technischem Effekt, schwer zu durchschauen, was Realität ist, was Medienrealität ist, was Gewalt ist, was auslösende Gewalt, Wirklichkeit oder Fiktion, wahr oder falsch, was als bloße Abbildung vermittelt existiert. Die Schleifspur der Medien, die unsere Geräte nun einmal sind, führt uns vom Wort, das am Anfang war, zu Gutenbergs fliegenden Lettern, von Theodor Adornos und Max Horkheimers Kulturindustrie zur Bewußtseinsindustrie Hans Magnus Enzensbergers, von Guy Debords Gesellschaft des Spektakels zu den Hackern und Cyberpunks, von den ersten Computern des Manhattan-Projekts (es waren Frauen, denn es musste, wie in früheren Telefonzentralen, manuell gestöpselt werden) zu Friedrich Kittlers Technischen Schriften und seiner verstiegenen Behauptung, „Rockmusik sei ,Mißbrauch von Heeresgerät‘“10.

Die herrschenden Charaktermasken und automatischen Subjekte sehen es mit Wohlwollen, wenn die User sich mit Websurfen und elektronischem Shoppen beglücken. Auf diese Idee muß man erstmal kommen: Die Bevölkerung für ihre Verblödung auch noch selbst bezahlen zu lassen! Das ist schon eine verzwickte Angelegenheit, wie auch Alexander Krohn meint: „sich ein handy anschaffen/ um bei einem überfall/ schnell hilfe// rufen zu können/ wird das handy zum grund/ für den überfall“.11 Man sollte nie vergessen, daß die High-Tech-Industrieprodukte Abfälle der Kapitalverwertung sind, ihr Dasein hat nichts mit dem Herstellen eines menschenwürdigen Lebens zu tun. Aus den Produkten spricht die „alteuropäische Devise imperialer Kybernetik“12: Navigare necesse est, vivere non est – navigieren muß man, leben nicht.

Die kybernetischen Gerätschaften spielen den Verhältnissen ihre eigene Melodie vor – oder besser: blasen ihnen den Marsch, allerdings ohne sie zum Tanzen zu bringen. Die Horrorvision einer technokratischen Gesellschaft, in der die Maschinen die Macht übernommen haben, ist dennoch absurd. Wenn es denn so käme, dann wären nicht die Maschinen an der Macht, sondern der geistlos waltende, stumme Zwang der Verhältnisse hätte in der Technik zu sich selbst gefunden.

„Der Kapitalismus verliert letztendlich seinen ewigen ,Wettlauf mit den Maschinen‘. Weil zu viele Waren mit immer weniger Arbeitskräften hergestellt werden können, versinken immer mehr Bevölkerungsgruppen und Weltregionen in Marginalisierung und Verelendung. Die technischen und materiellen Voraussetzungen zur Errichtung einer Gesellschaft, die die Grundbedürfnisse aller Menschen weltweit befriedigt, sind aber objektiv gegeben.“13 „Horror und Befreiung liegen eng beieinander, doch die Befreiung nehmen die Dinge uns nicht ab.“14




1  Anmerkung von Andreas Hansen: „[Stefan] Ret und Tone [Avenstroup] sind meine Eselsbrücke für Strike!. Es hieß, sie fänden das Heft gut, und Hartmut wollte noch mehr besorgen, weil er zu dieser Zeit im Roten Antiquariat arbeitete, genauso wie der Strike!-Macher Olli. Der war aber damals wegen seiner Verurteilung (siehe de.wikipedia.org/wiki/Militante_gruppe_(mg)) wieder inhaftiert worden bzw. seine Freigängerei wurde in „geschlossenen Vollzug“ zurückgestuft. Deshalb ging es mit Strike! nicht weiter. Im Heft selbst ist ein Artikel Klassenautonomie – Rätekommunistisches Manifest. Darüber – eigentlich nur über die Überschrift – haben wir uns wegen des Worts „Manifest“ unterhalten, dabei wurde auch das „Rätekommunistische“ erwähnt usw.“

2  Siehe: strike.blogsport.de/2012/09/25/erster-eintrag (Anmerkung 18.8.2023: der Link ist erloschen)

3  Paul Virilio, zitiert nach: Geert Lovink, Pit Schultz. Aus den Schatzkammern der Netzkritik. Erschienen in: Rudolf Maresch, Niels Werber (Hg.). Kommunikation Medien Macht. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1999, S. 315.

4  Thomas Brasch: Die nennen das Schrei. Gesammelte Gedichte. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2013, S. 545.

5  Siehe dazu: Freie Kooperation als Weg aus dem Kapitalismus?, www.opentheory.org/fk-wak/text.phtml, Abschnitt 22.

6  Aus dem Gedicht Heute von Heinz Czechowski. Erschienen in: Ders. Kein näheres Zeichen. Gedichte. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Leipzig, 1987, S. 171.

7  Aus: Jürgen Ploog. Nächte in Amnesien. Moloko Print, Pretzien, 2014, S. 140.

8  Zitat aus dem Song (Are You) The One That I’ve Been Waiting For? von Nick Cave (erschienen auf: Nick Cave and the Bad Seeds: The Boatman’s Call. Mute/Reprise, 1997).

9  Zitiert aus: Stanislaw Lem. Die Jagd. Neue Geschichten des Piloten Pirx. Volk und Welt, Berlin, 1972, S. 18 f.

10  Zitiert aus: Helmut Höge. Anarchopornographie. Erschienen in: floppy myriapoda, Heft 23, Distillery, Berlin, November 2013, S.625. In seinem Buch Grammophon Film Typewriter (Brinkmann & Bose, Berlin, 1986) schreibt Kittler allerdings: „Unterhaltungsindustrie ist in jedem Wortsinn Mißbrauch von Heeresgerät“ (siehe waste.informatik.hu-berlin.de/Diplom/ww2/kittlerthese.html).

11  Auszug aus dem Gedicht 3 Zwickmühlen von Alexander Krohn, erschienen in fuffy myrrhekaiopohla [floppy myriapoda], Heft 26, Distillery, Berlin, Silvester 2014, S. 679.

12  Aus: Bernhard Siegert. Aliens. Erschienen in: siehe Anmerkung 3, S. 193.

13  Aus: Tomasz Konicz. Die Krise kurz erklärt. Siehe telepolis.de/features/Die-Krise-kurz-erklaert-3392493.html.

14  Aus: Stefan Meretz. Kommunismus der Dinge und der Widerstand gegen RFID. Erschienen in Streifzüge 42/2008, siehe www.streifzuege.org/2008/kommunismus-der-dinge.



last update: 18. aug 2023